Wikimedia Deutschland/innovationsmotor/unlock forschung
Mission: Forschungsprojekt 2020
editWie können wir durch Freies Wissen zu einer weltoffenen und informierten Gesellschaft beitragen? Wir – Wikimedia Deutschland – wollen euch, Macherinnen und Macher sowie Changemakerinnen und Changemaker dafür mehr Raum bieten. Im Rahmen unserer Innovationsmotor-Strategie haben wir dafür den UNLOCK Accelerator ins Leben gerufen. Wir glauben an die positive Veränderungskraft von Freiem Wissen und wollen durch den Accelerator noch mehr gesellschaftliche Innovationen und Lösungen vorantreiben, die den freien Umgang mit Wissen auf der Welt verbessern, Wissen selbst vernetzen und noch weiter öffnen.
Gemeinsam mit dem Hybrid City Lab [1], einem Berliner Designstudio für gesellschaftliche Innovation, haben wir uns in einem dreimonatigen Forschungsprojekt auf die Suche nach den Themen der Gegenwart und Zukunft des Freien Wissens gemacht. Diese dienen als Grundlage für den UNLOCK Accelerator, um durch Förderung und Unterstützung zentrale Entwicklungen voranzutreiben. Dazu haben wir Interviews mit zwölf internationalen Expertinnen und Experten geführt und auf dieser Basis fünf zentrale Handlungsfelder identifiziert.
Ansatz und Vorgehen
editAls Vorgehen haben wir einen qualitativen und offenen Ansatz gewählt. Das heißt zum einen, dass wir auf Basis gezielter Gespräche und eigener Annahmen, Themen explorativ erkundet haben. Also: Weniger Fokus auf repräsentative Zahlen, mehr Augenmerk auf spannende und für den Accelerator wichtige Schwerpunkte. Zum anderen war unser Vorgehen ko-kreativ organisiert. Das heißt, wir haben unsere Ideen und Annahmen immer wieder mit Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern und in unterschiedlichen Konstellationen kritisch geprüft und weiterentwickelt. So haben wir versucht, unseren eigenen blinden Flecken auf die Schliche zu kommen und möglichst viele andere Perspektiven mit einzubeziehen. Und drittens haben wir iterativ, also in Schleifen gearbeitet: Statt eines großen Masterplans zu Beginn, haben wir während unserer Recherche immer wieder kleinere Synthesen und Auswertungen vorgenommen und eine neue, angepasste Richtung eingeschlagen. “Freies Wissen” ist ein hoch komplexes und weitreichendes Themengebiet. Trotz unserer Bemühungen – das sei vorab erwähnt – sind auch die Ergebnisse in diesem Report zwangsläufig selektiv und spiegeln eine Perspektive auf ein breites Themenfeld wider. Das heißt: Lest, denkt mit und weiter, und genießt die Ergebnisse mit einer Prise gesunder Skepsis.
Unser Startpunkt ins Projekt war ein Selbstinterview: Was ist die Zukunft des Freien Wissens? Was sind unsere eigenen Annahmen? Welches bestehende Wissen gibt es dazu bereits? Mit der klaren Benennung der eigenen Thesen zu Beginn haben wir früh die eigene Färbung unserer Forschung sichtbar gemacht – und im weiteren Prozess auch immer wieder hinterfragt. Mit den entstandenen Annahmen zum Thema haben wir innerhalb und außerhalb des Wikimedia-Universums, das Gespräch mit Expertinnen und Experten gesucht. Dabei hatten wir drei Hauptthemen. (1) Unsere bestehenden Annahmen sichtbar machen und zur Diskussion stellen. (2) Die Vision der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner herausarbeiten, um dann (3) auf gegenwärtige Barrieren, aber auch neue Möglichkeiten einzugehen. Die Einschätzungen wurden angepasst und in den darauf folgenden Interviews wieder zur Disposition gestellt. So wurden unsere Annahmen immer mehr widerlegt, ergänzt oder bestätigt.
Worum geht es?
editVor diesem Hintergrund haben wir für unsere Recherchen eine Arbeitsdefinition gewählt, die uns einen möglichst breiten Zugang zum Themenfeld Freies Wissen ermöglicht hat. Frei bedeutet in diesem Kontext, dass Informationen, Lizenzen und Rahmenbedingungen, die die freie Nutzbarkeit gewährleisten, bereitgestellt werden und ihre Weiterverbreitung und Veränderung somit grundsätzlich erlaubt ist. Wichtig ist auch die transparente Darstellung des Hintergrunds, der Entstehung und der Autorinnen und Autoren der jeweiligen Informationen. Bei der Auffindbarkeit und Nutzbarkeit müssen außerdem potenzielle Hürden für unterschiedliche, diverse Zielgruppen berücksichtigt werden. Diese Definition schließt an das ABC der Offenheit an.
Wissen dagegen haben wir als Verb definiert, also als eine aktive Tätigkeit, die über eine bloße Datenbank hinausgeht und vielmehr ein laufender Prozess von Erinnern, Vergessen, Verstehen und Erwarten ist. Wissen wird damit eine Praxis, die abhängig von Kontext, Anwendungsfall, Situation und beteiligten Gruppe höchst unterschiedlich ausfallen kann – selbst wenn sie sich auf dieselben Informationen in Form von Texten, Videos, Musik oder Daten bezieht. Wissen ist also immer eine soziale Aktivität. [2]
Um es zusammenzufassen: Freies Wissen gilt hier also als gemeinsamer und offener Umgang mit frei zugänglichen und verfügbaren Informationen.
Kontext
editWir knüpfen mit unserer Arbeit und Recherche an viele weitere Initiativen, Projekte und Erfolge anderer Organisationen an. Der Aufbau eines offenen, freien Internets und die Förderung von digitalen Gemeingütern ist zentraler Bestandteil von Netzaktivismus und digitalen Menschenrechten. Die Electronic Frontier Foundation beispielsweise arbeitet seit vielen Jahren an genau diesem Projekt unter dem Schlagwort Open Access https://www.eff.org/issues/open-access. Die P2P Foundation pflegt ebenfalls seit langer Zeit bereits eine offene Datenbank von offenen und freien Ressourcen, Plattformen und Netzwerken online und offline: https://wiki.p2pfoundation.net/Main_Page. Und natürlich setzt sich Wikimedia selbst mehr als 15 Jahren für die Förderung von Freiem Wissen im Netz ein – durch Initiativen zur Unterstützung von Freiwilligen, durch technische Entwicklung, das Sammeln und Veröffentlichen offener Daten und globalen Aktivismus und das Engagement vieler tausend Mitglieder.
Für die Recherche in diesem Report waren für uns außerdem die Berichte und Veröffentlichungen von Mozilla in ihrem regelmäßig erscheinenden Internet Health Report interessant. Und auch Nesta hat in ihrer Veröffentlichung mit Fokus auf die Knowledge Economy viele zentrale Punkte identifiziert – von Regulierung, über Bildung bis hin zu Machtungleichgewichten auf digitalen Plattformen.
Wir freuen uns, mit diesem Report dieser Arbeit eine weitere Facette hinzuzufügen – und vor allem ganz konkrete Projekte im Rahmen des Accelerator-Programms aktiv unterstützen zu können. Welche Herausforderungen, Themenfelder und Ansätze für uns dabei besonders spannend waren erklären wir im Folgenden.
Unsere Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner
editWir danken ganz ausdrücklich unseren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner [3] für ihre Bereitschaft, mit uns gemeinsam zu denken und zu diskutieren. Ohne ihren wichtigen Beitrag, wäre der vorliegende Report nicht möglich gewesen. Gesprochen haben wir zwischen Dezember 2019 und Februar 2020 mit:
- Audace Niyonkuru & Ally Nyiringabo, Digital Umuganda Ruanda: Digital Umuganda ist ein junges Start Up aus Kigali, Ruanda. Die beiden Gründer Audace und Ally haben es sich zur Aufgabe gemacht, Sprachdaten zu sammeln, um Sprachassistenten in der lokalen Landessprache entwickeln zu können. Das Ergebnis soll ein digitales Gemeingut an lokalen Sprachdaten sein, dass allen Menschen zur Verfügung steht. Dazu arbeiten sie mit Mozilla zusammen und werden unter anderem von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit unterstützt.
- Cathleen Berger, Mozilla: Cathleen Berger ist Politikwissenschaftlerin und seit März 2020 als Nachhaltigkeitsbeauftragte bei Mozilla verantwortlich für den Aufbau, die Strategie und konsequente, kollaborative Umsetzung von Nachhaltigkeit innerhalb Mozillas. Zuvor hat sie den Bereich Global Governance geleitet, Strategien für den geschäftsführenden Vorstand entwickelt und Trends rund um Technologie und deren Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen identifiziert. Sie twittert unter @_cberger_ und berichtet über ihre Arbeit unter cathleenberger.com
- David Li, Shenzhen Open Innovation Lab: David Li ist Geschäftsführer des Shenzhen Open Innovation Lab. Er arbeitet vor allem an der Erforschung und Vermittlung von offenen Innovationssystemen in Shenzhen und China. Außerdem begleitet und unterstützt er Unternehmer*innen auf der ganzen Welt dabei, gemeinsam mit Partnerinnen und Partnern in Shenzhen neue Ideen und Produkte zu entwickeln. Sein aktueller Schwerpunkt ist E-Mobilität.
- Karsten Windler, Bucerius Law School Hamburg: Karsten Windler ist seit 2015 Executive Director des „Center for Transnational Intellectual Property (IP), Media and Technology Law and Policy“ an der Bucerius Law School in Hamburg, das sich schwerpunktmäßig mit wissenschaftlichen Projekten an der Schnittstelle von Recht, Technologie, Daten und Digitalisierung beschäftigt. Bevor er die Leitung des IP Centers übernahm, war er in verschiedenen Positionen an der Hochschule tätig, u.a. als Pressesprecher. Er hat Jura und BWL in Hamburg, Singapur, Kansas und Vallendar studiert.
- Margret Rasfeld, Schule Im Aufbruch: Margret Rasfeld ist ehemalige Schulleiterin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum, Mitbegründerin der Initiative ‚Schule im Aufbruch‘, Buchautorin und aktive Bildungsinnovatorin. Ihre Vision ist eine wertschätzende Lernkultur, die zu Gemeinsinn und Verantwortung, Kreativität und Unternehmergeist inspiriert und befähigt. In Berlin erarbeitete sie seit 2007 an einem anspruchsvolles, international beachtetes Schulprogramm. Außerdem berät sie Schulen, kommunale Einrichtungen, Bildungsprojekte und Stiftungen. Margret war eine der sechs Kernexpertinnen im Zukunftsdialog der deutschen Bundeskanzlerin „Wie wir lernen wollen“ und u.a. Preisträgerin des Vision Award 2012.
- Martin Rulsch, Wikimedia Deutschland: Martin Rulsch ist seit rund 15 Jahren ehrenamtlicher Mitarbeiter und Administrator der Wikipedia. Sein Interesse gilt derzeit vorwiegend der Sportfotografie sowie der Antike. Auf internationaler Ebene unterstützt er fremdsprachige Projekte und wirkt Diffamierungen und Persönlichkeitsrechtsverletzungen entgegen. Derzeit ist er als Projektmanager im Team Ideenförderung von Wikimedia Deutschland tätig.
- Prof. Muki Haklay, University College London: Muki Haklay ist Professor für Geographische Informationswissenschaft am University College London (UCL). Er ist Gründer und Ko-Direktor der UCL Extreme Citizen Science Group und internationaler Experte für partizipatorisches Kartografieren und Forschen, sowie der Nutzbarkeit und Aspekten der Mensch-Computer-Interaktion von raumbezogenen Daten und Technologien sie wie der öffentlichen Zugänglichkeit von Informationen über die Umwelt.
- Nicole Ebber, Wikimedia Deutschland: Nicole Ebber ist Leiterin Internationale Beziehungen bei Wikimedia Deutschland in Berlin. Dort gestaltet sie die strategische Zusammenarbeit mit dem Netzwerk an globalen, partizipativen Strategieprozesses “Wikimedia 2030” arbeitet dort an der Frage, wie sich das Free Knowledge den nächsten 15 Jahren weiterentwickeln soll.
- Pen-Yuan Hsing, Durham University: Pen-Yuan Hsing’s Leidenschaft ist das Zusammenspiel von Wissenschaft und zivilgesellschaftlichem Engagement. Er rief ein Bürgerwissenschaftsprojekt zur Untersuchung und Überwachung von ökologischen Entwicklungen ins Leben, ist Verfechter von Free Culture und Open Science Bewegungen und setzt sich seit über 15 Jahren für eine freie, zugängliche Wissenschaft ein durch Workshops, Seminare, Publikationen und Forschungsprojekte. Für die Zukunft hofft Pen, mit vielen anderen (Euch!) gemeinsam und kreativ den Kreis von freiem, offenem Wissen und Innovation zu erweitern.
- Viktor Bedö, IXDM FHNW Basel: Viktor Bedö arbeitet an der Schnittstelle von Design Theorie, Critical Design, Urbanismus und Strassen-Spiel-Design und beschäftigt sich in seiner Forschung mit Themen wie Gemeinschaftsgütern und Allmende in Nachbarschaften, der Produktion und der Verwendung von GeoData und spielerischen Ansätzen zu agenten-basierter Modellierung. Er arbeitete u.a. mit Olafur Eliasson’s Institut für Raumexperimente, der Akademie für Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der HPI D-School in Potsdam. Er ist Gründer von Tacit Dimension, einem unabhängigen Research Lab für Straßenspiele und Mitgründer des Street Game Collectives Invisible Playground.
- Ulrike Thalheim, OK Lab Berlin, Code for Germany: Ulrike Thalheim arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestagsbüro von Saskia Esken. Sie engagiert sich seit 6 Jahren ehrenamtlich bei Code for Berlin für mehr Open Data und Civic Tech. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit waren in der Vergangenheit die digitale Flüchtlingshilfe und Wahldaten.
Die Zukunft des Freien Wissens
editWo stehen wir heute?
editMit Blick auf das Thema Freies Wissen haben wir grundsätzlich zwei Beobachtungen gemacht. Erstens haben wir uns den Status Quo, also den heutigen Zustand, in diesem Bereich angeschaut. Hier wird schnell deutlich, dass es großes Verbesserungspotenzial in Bezug auf Plattformen und Lösungen gibt: In weiten Teilen herrschen auch in digitalen Wissensnetzwerken Diskriminierung und Ausgrenzung großer Teile der Gesellschaft – entweder durch mangelnden technischen bzw. ungerechten Zugang, durch einseitige Standards oder schlicht durch Netzwerkeffekte, welche prominentes Wissen überdurchschnittlich befördern und neues oder unkonventionelles Wissen benachteiligen. So können überwiegend akademische Beiträge Nicht-Akademikerinnen und Nicht-Akademiker abschrecken, eigene Ideen und Gedanken zu teilen, besonders prominente Accounts oder Artikel werden immer weiter “nach oben gespült”. Hinzu kommt, dass Menschen, die ohnehin keine Anreize haben, an freien Wissensressourcen mitzuarbeiten auch nicht beteiligt sind, wenn es darum geht zu überlegen, wie in Zukunft attraktivere Rahmenbedingungen für die Arbeiten mit Freiem Wissen geschaffen werden können. Als Konsequenz ist auch das geteilte Wissen selbst oft vereinfacht, verkürzt, irrelevant oder für viele Menschen schlicht unvermittelbar. Das führt zu Resignation und Frustration und schöpft das volle Potenzial eines gemeinsamen globalen Wissensprojektes nicht aus.
Auf der anderen Seite, auch das ist wichtig, ermöglichen aktuelle Ansätze eine gewisse Erwartbarkeit, die zumindest heute schon vielen Nutzenden Vertrautheit, Effizienz und Orientierung bietet. Nicht zuletzt die Wikipedia selbst hat gezeigt, welch großes Potenzial in kollaborativ erstellten enzyklopädischem Wissen stecken kann. Andere Plattformen – von Wikidata über Open-Science-Projekte bis hin zu YouTube und Wechat – zeigen wie divers Wissen ist und wie hilfreich dabei viele kleine Nischen und Communities sind.
Die große Vision
editAuf der Suche nach einer wünschenswerten Zukunftsidee für das Thema Freies Wissen wird schnell klar, dass Ausbau und Nutzung der globalen Ressource Freies Wissen großes Potenzial birgt. Wir knüpfen für die Arbeit im Accelerator an die bestehende Wikimedia Movement Strategy an und konzentrieren uns auf die beiden zentralen Säulen “Wissen als Dienst”, also die Bereitstellung von Werkzeugen, Infrastruktur, Plattformen und Informationen für Nutzer*innen aus der ganzen Welt, und “Gerechtigkeit des Wissens”, also die Fokussierung auf Gruppen und Gemeinschaften, die bisher aus bestehenden Netzwerken und Angeboten oft ausgeschlossen werden. Innerhalb dieses Rahmens haben wir für den Accelerator eine wünschenswerte Perspektive identifiziert und ausgestaltet: Wir wollen als große Vision in einer repräsentativen, offenen und hoffnungsvollen globalen Wissensgemeinschaft leben, die alle Menschen umfasst und dabei nutzbar und effektiv für die verschiedensten Gruppen von Nutzenden sowie Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter bleibt. Neben technischen Herausforderungen wie Interoperabilität, also der systemübergreifenden Zusammenarbeit von verschiedenen Datenbanken und Informationssystemen, Erreichbarkeit und Zugänglichkeit stehen dabei auch Ziele wie eine faire Governance, also ein transparentes und partizipatives Entscheidungs- und Organisationssystem, oder eine respektvolle Diskussionskultur im Mittelpunkt.
Die Umsetzung dieser großen Ideen ist jedoch nicht einfach. Es gibt unzählige Eventualitäten und Details, die notwendigerweise von Situation zu Situation, von Gruppe zu Gruppe oder von Thema zu Thema unterschiedlich sind. Darum muss eine solche “visionäre Idee” einer globalen Wissensgesellschaft zwangsläufig in vielen Einzelheiten offen und manchmal sogar unkonkret bleiben. Das macht es mitunter schwer, eine klare Richtung aufzuzeigen, die wir gemeinsam anpacken können, und zu identifizieren, wo es Handlungsbedarf gibt, und welche Hebel es zu bearbeiten gilt. Trotzdem – oder gerade deswegen – haben wir im Folgenden zusammengestellt, wo wir davon überzeugt sind, dass es sich lohnt anzupacken, weiterzudenken und -arbeiten, und Ideen zu schaffen.
Was können wir konkret tun?
editWir haben fünf Hebel identifiziert, von denen wir glauben, dass sie besonders großes Potenzial aufweisen, um eine digitale, faire und inklusive Wissensgesellschaft voranzubringen und die im Rahmen des Accelerators angegangen werden können. Sie lauten:
- Wissensnetzwerke
- Wissenskompetenz
- Wissenshorizonte
- Wissensproduktion
- Wissensgesellschaft
Themenfeld 1: Wissensnetzwerke
editWorum geht's?
editDigitale Plattformen und Netzwerke ermöglichen es, Informationen und Daten weltweit zu teilen, zu vergleichen, zu verändern und anzuwenden. Die letzten 20 Jahre haben uns gezeigt, welch riesiges Potenzial darin liegt, gemeinsam an einem großen digitalen Wissensprojekt wie z.B. der Wikipedia zu arbeiten. Aber auch andere Plattformen, von GitHub über Reddit bis zu YouTube, bieten heute wertvolle, gemeinschaftliche Wissensressourcen für eine vernetzte Welt. All diese Netzwerke haben gemeinsam, dass sie Wissen als eine Art globales Gemeingut (englisch: Commons) pflegen.
Neben all den großen und kleinen Herausforderungen, denen wir dabei begegnen, ist vor allem auch die dahinter liegende Infrastruktur (also die Art und Weise, wie wir Informationen kategorisieren, sortieren und bewerten) zentral. Was gilt als wichtige Ergänzung zu einem bestehenden Beitrag? Wie gehen wir mit technischen und inhaltlichen Differenzen um? Wie wird entschieden, was prominent ist und was nicht? Welche Entscheidungsmechanismen, also welche Governance, liegen dahinter? Die Antworten auf diese Fragen fallen von Plattform zu Plattform und teilweise sogar innerhalb einer Community sehr unterschiedlich aus. Das hat mit verschiedenen Kontexten aber auch Entstehungsgeschichten, Ressourcen und Anforderungen zu tun.
In allen Fällen ist es jedoch die Infrastruktur (und das damit verknüpfte Governancemodell), die innerhalb einer Community die effiziente Organisation und Koordination von bestehendem Wissen sicherstellt – und gleichzeitig die stete Weiterentwicklung und Ergänzung durch neue Ideen, Daten und Perspektiven möglich macht. Sie ist Herzstück und Rückgrat für jede vernetzte Wissenscommunity. Sie schafft Vertrauen, Übersichtlichkeit und sorgt dafür, dass alle mit ähnlichen Erwartungen und vergleichbaren Inhalten teilnehmen. Eine Wissensplattform übernimmt so heute immer mehr die Rolle dessen, was früher ein Verlag geboten hat: Als “Gate Keeper” trägt sie Verantwortung in der Organisation und in der Koordination von Wissen – und erfordert das Vertrauen all jener, die sie nutzen.
Herausforderungen
editWir sehen vor diesem Hintergrund zwei zentrale Herausforderungen im Kontext Infrastruktur und Governance, denn sowohl unserem Anspruch an Verantwortung als auch an Vertrauen werden bestehende Modelle oftmals nicht gerecht. Erstens resultieren aus der Wahl von technischen Rahmenbedingungen, Datenformaten und Verlinkungen und inhaltlichen Entscheidungskriterien notwendigerweise Ausschlusseffekte. Das sorgt dafür, dass viele potenziell interessante Informationen von vornherein herausgefiltert werden, weil sie gesetzten Standards nicht entsprechen, eine andere, oftmals informelle Sprache sprechen, weil sie andere Formate und Daten enthalten, oder schlicht in nicht kompatiblen Datenbanken abliegen. So gibt es heute unglaublich viel Wissen, das schlicht “unter dem Radar” stattfindet: Mangels klarer Regeln im Umgang mit unterschiedlichen Wissensformaten bleibt Wissen oft – wenn überhaupt digitalisiert – in Nischen, eigenen kleinen Netzwerken und Communitys oder Datenbanken liegen.
Das führt zu einer zweiten Herausforderung, nämlich die einer mangelnden Übersichtlichkeit, also der Vergleichbarkeit und auch der Repräsentation von globalem Wissen. Durch die begrenzte Auffindbarkeit und Vergleichbarkeit von unterschiedlichen Informationen aus unterschiedlichsten Hintergründen, entstehen immer mehr kleine Wissensnetzwerke im Netz, die leider oftmals nicht ausreichend miteinander verknüpft sind. Hier fehlt es an universellen Standards aber auch an neuen Ideen, wie wir noch unsortierte, neue und vielleicht unkonventionelle Wissensformate in bestehende Netzwerke einbinden und wirklich nutzbar machen. Wir laufen sonst Gefahr, dass insbesondere Gruppen und Praktiken, die nicht dem herrschenden Mainstream (etwa: westlichen akademischen Standards, sauberen Datenquellen, informellen Formaten wie Videos und Skizzen) entsprechen, systematisch marginalisiert werden.
Was braucht es?
editWir sind auf der Suche nach neuen Ansätzen für Schnittstellen, Governancemodelle und Mechaniken, um mehr unterschiedliches Wissen miteinander zu vernetzen – ohne dabei eine klare, übersichtliche Orientierung und Sortierung aufzugeben. Wir glauben, dass Wiki, Reddit und Git zentrale erste Schritte für die digitale Organisation von Wissen und Informationen sind – und dass es darüber hinaus noch vielversprechende Alternativen gibt, die wir noch lange nicht ausgeschöpft haben. Wir stellen uns vor, dass wir in einem diversen, offenen Internet viele kleine Wissensnetzwerke entdecken, die noch viel reger miteinander in Austausch treten, Inhalte und Formate teilen und vernetzen können als es heute schon der Fall ist. Kurz: Wir wollen eine Infrastruktur für die globale Wissenscommunity bauen, die offen genug für unterschiedlichste Formate und Wissenslogiken ist – und gleichzeitig robust genug, um verlässliche, transparente und vertrauenswürdige Informationen zu fördern.
Bestehende Ansätze
editEs gibt bereits einige Ansätze und Ideen, die diese Richtung verfolgen. Mit der Entwicklung des Digital Object Identifier (DOI), zum Beispiel bei der Recherche und Verlinkung von wissenschaftlichen Papers, ist bereits ein erster großer Schritt hin zu einer breiten Vernetzbarkeit von allen möglichen Informationen getan. Die P2P Foundation arbeitet bereits seit langer Zeit an Konzepten für eine vernetzte Wissensarchitektur, ein P2P-Wiki als lokale Cloud. Auch im Kontext von Blockchain und dezentralen Datenbanken ist die Idee für ein Bottom-Up Wiki entstanden. Das sind interessante Ansätze – wir wollen gerne weiterdenken: Welche anderen Formen von Wissen (außer enzyklopädischer Informationen à la Wikipedia) können dezentral organisiert und vernetzt werden? Wie kann ein universelles Wissensnetzwerk mit DOIs funktionieren? Wie können wir technisch und organisatorisch Informationen aus YouTube, Reddit, Wikipedia und Co. zusammendenken, um ein viel diverseres, reichhaltigeres Angebot von Wissen zu bekommen als es heute der Fall ist? Und wie lösen wir die alte Governance-Frage, also wie wird entschieden wie entschieden wird? Es gibt viel zu tun!
Themenfeld 2: Wissenskompetenz
editWorum geht's?
editWissen ist Können! Der Umgang mit Informationen, das Verstehen, Vergleichen, Reflektieren und Ergänzen erfordert eine ganze Menge an Vor-Wissen: Wie bewerte ich das, was ich das lese? Wo finde ich eigentlich die Informationen, die ich suche? Wie lese und verstehe ich einen langen Artikel? Ein How-To-Video? Einen Bauplan? An welcher Stelle ergibt es für mich Sinn, selber Anpassungen einzubauen – und wo nutzt es mehr, erstmal zuzuhören und zu übernehmen?
Der kompetente Umgang mit all diesen Fragen zielt auf einen entscheidenden Unterschied ab: Auf der einen Seite gibt es klare Informationen und Daten, Artikel, Videos, Geschichten und andere Medien. Wissen ist hier explizit, also deutlich sichtbar, teilbar, kommunizierbar – und damit auch kritisierbar. Auf der anderen Seite stehen die Wissenskompetenzen. Die Fähigkeit Dinge gut einzuschätzen und in den jeweiligen Kontext im Alltag zu übersetzen. Diese Seite ist genauso entscheidend für eine produktive Arbeit am gemeinsamen Freien Wissen, aber sie ist implizit, also nur indirekt vermittelbar, etwa durch Nachmachen, Ausprobieren, Lernen und eigene Reflexion. Erst in einem guten Austausch beider Seiten entsteht wirklich fruchtbares gemeinsames Wissen.
Herausforderungen
editSoviel zur Theorie. Und was heißt das für eine Zukunft von Freiem Wissen? Dass wir, wenn wir über globale Commons und Wissensnetzwerke sprechen, mehr im Blick behalten müssen, als bloße Daten, Informationen, digitale Netzwerke oder Plattformen. Es geht um Wissenskompetenzen, um das gemeinsame Lernen eines konstruktiven Umgangs mit einer globalen Wissensressource. Das Problem dabei ist jedoch, dass dieser Umgang viel schwerer zu vermitteln und zu erlernen ist, als das inhaltliche Wissen selbst. Wie erklärt man jemandem, wie man einen Wikipedia-Artikel einzuordnen hat, wenn die Person eher informelles Learning-By-Doing gewohnt ist und weniger akademische Vorbildung zur Verfügung hat? Wie vermittelt man “wissenschaftliche Objektivität” in einer Community, in der Wenige studiert haben? Wie sollen praktisches Alltagswissen, traditionelles Handwerk, kulturelle oder soziale Perspektiven auf die Welt vermittelt werden, wenn auf der anderen Seite nach zitierbaren Quellen, am besten mit DOI oder ISBN gefragt wird? Und: Wie erlernt und vermittelt man eigentlich einen kompetenten Umgang mit digitalen Medien, Plattformen, Mechaniken und Interfaces, wenn Nutzende an die Geschwindigkeit von Snapchat und Tiktok, an vertraute Gesichter oder an die vereinfachte Darstellung von Google-Ergebnissen und Facebook-Timelines gewöhnt sind?
All das sind Herausforderungen, die entscheidend für ein globales Projekt für Freies Wissen sind, die sich aber jenseits von konkreten Inhalten und auch jenseits von technischen Fragestellungen abspielen. Der Zugang zu digitalen Möglichkeiten, an Wissen teilzuhaben, das gemeinsame Lernen und Vermitteln einer fairen Diskussionskultur, eine “Digital Literacy”, die sich nicht nur auf Technologie, sondern auch auf Verstehen, Vermitteln und Bewerten von Wissen bezieht – all das sind Wissenskompetenzen, die wir fördern, stärken und ausbauen wollen.
Was braucht es?
editWir glauben, es braucht eine Möglichkeit, lokales, individuelles Wissen, gelernte Erfahrungen und Erlebnisse noch viel weiter für eine globale Community zu öffnen, als es heute der Fall ist. Und zwar nicht bloß als persönliche (Insta-)Story, sondern mit Blick auf spannende, neue und authentische Erfahrungen in einer globalen Wissenscommunity.
Außerdem wollen wir ermöglichen, dass viel mehr Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten und “Digital Skills” an einem globalen Projekt zu Freiem Wissen mitbauen. Wir brauchen Interfaces, die die gleichen Inhalte an verschiedenste Nutzende anpassen, Lernhilfen, die den Umgang mit widersprüchlichen oder unterschiedlichen Informationen aktiv unterstützen und begleiten. Wir brauchen Wissensübersetzer*innen, die helfen, explizite Inhalte und Medien in verstandenes und erfahrenes Wissen zu übertragen – und die umgekehrt Menschen dabei unterstützen, eigenes Wissen zu dokumentieren, an digitalen Wissensplattformen teilzuhaben und oftmals anspruchsvolle Mechaniken und Regeln zu verstehen (und zu hinterfragen).
Bestehende Ansätze
editEs gibt eine ganze Reihe an Initiativen, Blogs und Projekten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Wissenskompetenzen zu vermitteln. Viele davon sind allerdings entweder auf sehr spezifische Nischen beschränkt oder oftmals noch immer für viele Menschen zu voraussetzungsvoll. Wir fänden es spannend, einen “Knowledge Simplifyer” zu entwickeln, einen Service, der denselben Inhalt auf verschiedenen Arten vermittelt und hilft, einzuordnen wie spezifisch oder allgemein bestimmte Informationen sind – in etwa so. Auch einen expliziten Lernpfad finden wir interessant, um künftig besser und kompetenter mit Wissen umgehen zu können – im Prinzip ein Duolingo für die Wissensarbeit. Vielleicht sogar ein “Snapchat für Wikipedia-Inhalte”, das unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten und UX-Erwartungen bedient, um implizites und praktisches Wissen für eine globale Community zu eröffnen und unterschiedliches Wissen produktiv in den eigenen Kontext zu übersetzen. Das kann auch als Chatbot oder sprachbasiert passieren.
Letztlich aber leben Menschen – zumindest noch – auch immer in der nicht-digitalen Welt. Wir glauben daher, dass Wissensarbeit auch Offline passieren kann und muss. Die Wikipedia wäre ohne eine starke Offline-Community mit Cafés und Treffen nie so groß und vielfältig geworden, wie sie es heute ist. Wie wäre es also mit einem Wissens-Übersetzungs-Café, in dem wir gemeinsam lernen, digitales Wissen und analogen Alltag zu verknüpfen? Wir glauben, dass all diese Ansätze – und sicherlich noch viele weitere – helfen können, das volle Potenzial von Freiem Wissen in einer globalen Gesellschaft wirklich auszuschöpfen. Gehen wir es an!
Themenfeld 3: Wissenshorizonte
editWorum geht's?
editEin digitales Wissensprojekt muss sich heute mit einer heterogenen Welt voller Unterschiede und Perspektiven, voller Meinungen und oftmals widersprüchlicher Fakten und Entwicklungen auseinandersetzen. Ein Blick ins Tagesgeschehen reicht aus, um erbitterte Kämpfe um Identitäten und Wahrheiten, Deutungen und “Fakten” auszumachen. Wissen als gemeinsame Aktivität heißt damit auch, mit der Einsicht zu starten, dass es ein letztes Wort, einen objektiven oder neutralen Blick auf die Welt in den allerwenigsten Fällen gibt. Das bedeutet jedoch nicht das Ende, sondern gerade den Anfang eines Projektes um Freies Wissen:
Zentral für eine Community um Knowledge Commons ist heute mehr denn je ein reflektierter Umgang damit, was, wann und warum als wichtig und richtig und was als unwichtig und falsch gilt. Es geht damit weniger um das Sammeln und Belegen von Fakten und Quellen (das kann oft helfen, oft jedoch auch unfaire Barrieren aufstellen). Viel mehr rückt unser Umgang mit Widersprüchen, mit Irritationen, anderen Ideen, Ansätzen und Erfahrungen in den Mittelpunkt. Gesucht werden neue Strategien im Umgang als Individuum und als Gesellschaft. Empathie, Verständnis, Respekt und Toleranz sind nicht nur politische Werte, sondern gerade im Umgang mit Wissen zentrale Leitplanken für eine offene und vielfältige Wissensarbeit. Eine ehrliche Argumentation, die Offenheit für andere Ansichten und das Aushalten von Differenzen sind dabei essentielle Bausteine.
Herausforderungen
editSo schön das Ideal, so schwierig die Umsetzung. Denn Widersprüche verunsichern und stellen vieles infrage. Gerade auf der Suche nach gemeinsamem Wissen geht es ja doch eigentlich genau darum, diese Unsicherheiten durch Antworten zu verringern. Wir sind daher immer wieder dazu gezwungen, viele Dinge auszublenden, um einige genauer zu verstehen. Jedes Wissen tut als ob es zumindest gerade all die Widersprüche und offenen Fragen nicht gibt, um zumindest einen Anfang machen zu können. In der Konsequenz entstehen kleine Filterblasen oder sogar Silos: Dann wird rigoros aussortiert, was nicht die gleiche Methodik, die gleiche Perspektive oder die gleiche Datengrundlage teilt.
Die Gefahr liegt auf der Hand. Vor lauter Aussortieren entsteht auch hier Einseitigkeit, Exklusivität oder sogar Radikalität von einzelnen Ideen und Ansichten. Algorithmen und Netzwerkeffekte tun ihr Übriges, gerade in digitalen Netzwerken und auf digitalen Plattformen. Ergänzt durch technologische Verstärkung und Filter entstehen Geschichten und Ideen, die nahezu veränderungs- oder kritikresistent sind. Ihre Verfechter*innen neigen oft zu diskriminierenden oder ausgrenzenden Praktiken. Eine Diskussionskultur, die auf Lernen und gemeinsame Veränderung setzt, bedeutet oft viel schwere Arbeit. Das trübt das Vertrauen in ein gemeinsames Projekt, und sorgt im Zweifel dafür, dass andere Wissenssilos entstehen – ohne dass ein Austausch zwischen diesen entsteht.
Was braucht es?
editWir arbeiten stattdessen auf ein offenes Netzwerk von Netzwerken hin. Das bedeutet für uns eine Freies-Wissen-Community, die für sich aushandelt, was gerade gilt, nach welchen Regeln und mit welchem Anspruch Wissen und Informationen geteilt und geprüft, diskutiert und bewertet werden. Das gibt Sicherheit, Verlässlichkeit und sorgt dafür, sich auf bestehendes Wissen, auf gesicherte Informationen verlassen zu können.
Gleichzeitig jedoch braucht es Austausch, Neugier und Respekt für all das, was unterwegs ausgeklammert wurde. Konkret bedeutet das, eine gezielte Suche nach den eigenen blinden Flecken: Welche Daten wurden ausgeklammert und warum? Welche Positionen, Regeln oder Kriterien werden nicht akzeptiert – und was verpassen wir dadurch? Welche eigenen Sicherheiten stellen wir selbst nicht mehr infrage – und verpassen so einen offenen Austausch mit anderen Ideen und Perspektiven. Und auch: welche klaren Leitplanken, Umgangsformen und Werte setzen wir voraus, damit wir respektvoll mit uns und anderen umgehen können. Wir verstehen eine gemeinsame Suche nach Freiem Wissen als dialogischen Prozess [4], der vielmehr ein gemeinsames Projekt des miteinander Redens als ein Sammeln von “Fakten” ist.
Vor diesem Hintergrund braucht es neue (und vielleicht auch alte) Ideen, gemeinsam die Fragen der Welt auszuhalten. Wir wünschen uns: Projekte zur Förderung einer gesunden Diskussionskultur, Ideen, wie wir merken, wo wir warum anders entschieden haben als andere, viel mehr Blicke über den Tellerrand, die Empathie und Verständnis für die Hintergründe und Eigenlogiken von widersprüchlichen Anschauungen bieten. Und auch Projekte, um gemeinsam spielerisch Umgangsformen und Regeln festzulegen, die nicht glauben irgendwie “neutral” zu sein, sondern einfach transparent, offen und bereit andere Standpunkte ernst zu nehmen.
Bestehende Ansätze
editAuch hier gibt es spannende Projekte, die sich genau das vornehmen: Das Subreddit Change My View zeigt, allen Internetgesetzen zum Trotz, dass eine sachliche, offene und konstruktive Diskussion über die kontroversesten Themen auch online möglich ist. In Deutschland macht das Projekt Deutschland spricht deutlich, dass hinter Meinungen immer Menschen stehen – und ein respektvoller Austausch in der Sache funktionieren kann. Mittlerweile übrigens auch international. Kleine Interventionen wie Browser Plug-Ins von FlipFeed oder Escape your Bubble bauen im eigenen Social Media Feed die News von anderen Filterblasen ein. Das Civic Media Team des MIT experimentiert mit Plattformen, die Nutzern die Kontrolle über den News-Algorithmus geben und sichtbar machen, warum Inhalte im Feed gelandet sind.
Es geht also. Wir glauben, die Chance für die Freies Wissen Community, derartige Ansätze zu übernehmen und weiterzudenken, ist riesig! Darum wollen wir das Thema aktiv fördern.
Themenfeld 4: Wissensproduktion
editWorum geht's?
editWissen ist Ko-Produktion, also ein Geben und Nehmen von unterschiedlichsten Wissensakteurinnen und Wissensakteuren: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Freiwillige, Expertinnen und Experten, Neugierige, kritische Leserinnen und Leser sowie akribische Faktenchecker. Auch wenn die Kosten, einmal digitalisierte Informationen zu teilen und zu kopieren gegen null gehen - die Produktion und Dokumentation von Wissen kostet Zeit und Ressourcen. Sei es für die Kategorisierung von Daten, das Überprüfen von Quellen, das Schreiben von Artikeln, das Produzieren von Videos, die Dokumentation von lokalem oder informellem Wissen. Alle, die diese Arbeit in einer Community leisten, tragen dazu bei, Wissen als Gemeingut zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Wie bei allen Gemeingütern stellt sich damit auch die Frage nach fairen Bedingungen für die Verteilung von Kosten und Nutzen. Wir wollen, dass Freies Wissen unter fairen und nachhaltigen Bedingungen erstellt und gepflegt wird. Fairness heißt für uns, mitgestalten zu können nach welchen Prinzipien in Zukunft verteilt wird. Das betrifft sowohl die Verteilung der Kosten, von Zeitaufwänden über finanzielle Ressourcen bis hin zu Erhebung und Dokumentation. Zum Anderen heißt das auch, dass mögliche Gewinne – vor allem finanzieller Art – die aus einem gemeinschaftlichen Projekt entstehen für alle Beteiligten nachvollziehbar, inklusiv und gerecht verteilt werden.
Herausforderungen
editIn Wissensnetzwerken herrschen – wie in fast allen Netzwerken – oft ungleiche Machtdynamiken: Das heißt, dass einige Akteurinnen und Akteure mehr Einfluss darauf haben, wer die oben genannten Kosten und Nutzen in Zukunft in welchem Ausmaß trägt. Das hat verschiedene Gründe: Ressourcen wie Geld und Wissen zu Regeln, Prozessen oder Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sind ungleich verteilt. Netzwerkeffekte sorgen dafür, dass sich diese Ungleichheit aus sich selbst heraus weiter verstärkt und verselbstständigt – digitale Plattformen zeigen, dass dies zu grundsätzlichen Lock- in Effekten führen kann, die große Konsequenzen für alle Nutzenden haben. Und schließlich gibt es oft ganz unterschiedliche Bewertungen von Kosten und Nutzen, gerade wenn es um Freiwilligenprojekte oder Commons geht: Was manchen Spaß macht, ist anderen eine Last. Was einige viel Zeit kostet, ist für andere schnell erledigt, oder ein Nebenprodukt anderer Arbeit. Zumal immaterielle Güter wie Informationen und Daten oft für viele Menschen nur indirekt in einen konkreten Mehrwert im Alltag übersetzbar sind – im Gegensatz zu Datenplattformen.
Das alles sorgt dafür, dass die Formulierung und das Einhalten von klaren Standards und die Teilhabe von Mehrwerten durch Informationen und Daten oft ungerecht verteilt sind. Insbesondere auf politischer Ebene sind klare Regeln zum Umgang mit digitalen Gemeingütern entweder unzureichend abgesteckt oder viel zu wenig durchgesetzt.
Zudem gibt es viele Menschen, für die die Teilnahme an einem digitalen Wissensprojekt eine Luxusbeschäftigung darstellt. Darüber hinaus ist der Wirklichklichkeitsbezug von einem digitalen Wissensprojekt für Menschen, die sich primär um ihr tägliches Einkommen kümmern müssen, oft viel zu abstrakt ist. Diejenigen, die eigentlich viel mehr in die gemeinsame Gestaltung von Freiem Wissen einbezogen werden sollten, bleiben so schon außen vor, wenn es um die Verhandlung der Regeln geht.
Was braucht es?
editWir wollen Freies Wissen als eine selbsttragende, globale, nachhaltige und vielfältige Ressource etablieren. Das heißt, dass wir die Chancen zur Teilhabe und Teilnahme an Wissensprojekten für alle Menschen (nicht nur jene, die es sich heute leisten können) ganz grundsätzlich erweitern müssen. Freies Wissen ist nur für wenige Menschen eine Luxusbeschäftigung oder Liebhaberei, aber bietet global das Rückgrat für eine digitale Weltgesellschaft, die sich selbst hilft, vernetzt, unterstützt und weiterentwickelt. Der faire Zugang zu Informationen, und vor allem die gerechte Teilhabe an Gewinnen und Mehrwerten, die durch Freies Wissen entstehen, müssen gerecht verteilt werden. Wissensarbeit ist Arbeit – und das heißt, wir müssen auch über eine faire Gegenleistung nachdenken. Das kann so weit gehen, dass wir aktiv Menschen unterstützen, die wichtiges Wissen zu teilen haben, aber aufgrund wirtschaftlicher Rahmenbedingungen heute nicht dazu in der Lage sind, dies zu tun.
Wir brauchen eine Weiterentwicklung oder grundsätzliche Alternativen zu heutigen digitalen Geschäftsmodellen für Commons und Open-Source-Projekte. Wir brauchen klare politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die Gemeinwohl schützen und fördern und vor einseitiger Ausnutzung schützen. Und wir wollen neue Geschäftsmodelle entdecken, die das Potenzial von offenen und freien Ressourcen nutzen und gleichzeitig ihre wirtschaftliche Nachhaltigkeit absichern. Nur so können wir zeigen, dass Freies Wissen eine echte Alternative zu bestehenden Closed-Source-Modellen, zu kurzfristigen Eigeninteressen und zu proprietären Wissens- und Zugangsstrukturen darstellt. Wir wollen den Wechsel hin zu einer freien Alternative so sinnvoll und einfach wie möglich gestalten – für jeden Menschen und jede Organisation.
Bestehende Ansätze
editEs gibt eine Reihe von Ansätzen, die sich mit faireren Beteiligungsmodellen für immaterielle Güter befassen. Dabei gibt es viele Variationen: Von Patreon, die versuchen, Kreativen eigene Einkommensmöglichkeiten unabhängig von Werbeeinnahmen auf digitalen Plattformen zu schaffen, über klassische Open-Source-Geschäftsmodelle á la Open Desk, bei denen Produktion und Zugang zu Informationen getrennt sind, bis hin zu GitHub, wo die Closed-Source-Seite die Open-Source-Seite gegenfinanziert.
Etwas neuer sind Ansätze wie Streamr, bei denen explizit Daten als Güter behandelt werden – und Nutzende die Möglichkeit bekommen sollen, selbst zu entscheiden, was mit ihren gesammelten oder geteilten Daten geschieht, und wer sie dafür bezahlt. Ähnliche Modelle sind auch im Kontext Freies Wissen denkbar. Elementar ist dabei, dass Wissen Frei bleibt – und gleichzeitig fair für alle, die daran mitwirken.
Themenfeld 5: Wissensgesellschaft
editWorum geht's?
editDenken wir mal groß: In den letzten Jahren haben wir gesehen, dass digitale Netzwerke völlig neue Chancen, Risiken und Möglichkeiten bieten, als Menschheit zusammenzuarbeiten. Der Austausch von Wissen, das Teilen von Informationen und Daten und die gemeinsame Arbeit an neuen Projekten, Ideen und Services hat unzählige Innovationen hervorgebracht. Gleichzeitig jedoch beobachten wir, wie diese Ideen des Freien (Wissens-)Netzes Gefahr läuft, sich selbst zu unterlaufen.
Überwachungskapitalismus, toxische Netzkultur, eine Verfransung von unterschiedlichen Open-Source-Projekten, die eigentlich auf ein gemeinsames Ziel einzahlen, und eine große Portion Ernüchterung gehören genauso zur noch jungen Geschichte des Internets wie Wikipedia, Open-Source-Software und Online Communitys. Wir sind in vielerlei Hinsicht im Tal der Enttäuschung angelangt: Gig Economy, Black Box Algorithmen, Super-Oligopole, digitale Menschenrechtsverletzungen – und auch im Kontext von Freiem Wissen und Software gibt es viele Baustellen: Vertrauensprobleme bei Informationen und “Fakten” im Internet, mangelnde Diversität von jenen, die Wissen dokumentieren und teilen, sinkende Neumitgliederzahlen bei der Wikipedia selbst. Online wie offline herrscht bei vielen ein diffuses Gefühl von “es könnte auch besser gehen” – aber selten eine klare Idee davon, wie.
Wir glauben: um das Projekt einer globalen freien Wissensgesellschaft voranzutreiben braucht es eine attraktive Vision und klare Handlungsoptionen in der Gegenwart. Also eine Idee davon, was so eine Digital Commons Gesellschaft rund um Freies Wissen genau bedeutet, wie wir sie gestalten und leben können, und was wir mit den vielen ungeklärten Fragen (Regulierung, Nachhaltigkeit, Partizipation, Effizienz) anfangen.
Herausforderungen
editWir glauben, dass es viele kleine und große Projekte gibt, die auf unglaublich vielschichtige, passionierte und oft innovative Art und Weise, an einer solchen Vision arbeiten. Die Zukunft von Freiem Wissen ist dezentral! Aber das heißt auch, dass es an einem Gesamtzusammenhang fehlt, an einem gemeinsamen Nenner, auf den wir uns konzentrieren können, der hilft, Aktivitäten zusammenzuführen und wirklich einen großen Hebel umzulegen.
Daraus folgt, dass es zum einen oft nur ein bedingtes “Problembewusstsein” bei jenen gibt, die einen großen Anteil daran haben könnten, Wissen frei und zugänglich zu gestalten – Politik, Institutionen und Unternehmen. Zum anderen herrscht oft Unklarheit, wie eine Veränderung hin zu mehr Offenheit und Freiheit mit Wissen und Informationen konkret umgesetzt werden kann. Es fehlt an zugänglichen Handlungsoptionen, an konkreten und realistischen Möglichkeiten im Alltag. Vielleicht an einem gesamtgesellschaftlichen Momentum, das Potenzial eines offenen und freien Internets wirklich zum Wohle einer fairen Gesellschaftsidee zu nutzen. Nicht zuletzt auch, weil Kritik und Ablehnung grundsätzlich leichter fällt als eine positive Formulierung einer gemeinsamen Zielvorstellung.
Was braucht es?
edit(Ein bisschen) Revolution. Wir arbeiten für eine Vision einer offenen und freien Wissensgesellschaft, einer Digital Commons Gesellschaft als lebenswerte Alternative zum gegenwärtigen digitalen Überwachungskapitalismus. Dazu braucht es Verständnis und Bewusstsein für große und kleine Zusammenhänge: Wie hängt Plattformökonomie mit Wissenszugängen zusammen? Was hat Digital Literacy mit politischer Regulierung zu tun? Welche Rolle spielen Machine Learning und Algorithmen für den Zugang zu relevantem Alltagswissen – oder radikalen politischen Meinungen? Und wo genau können wir ansetzen, um einen gemeinsamen Prozess anzustoßen, der konkrete Alternativen aufzeigt und umsetzt – Bottom-Up, gemeinschaftlich und inklusiv.
Fridays for Future hat es vorgemacht: Ein globales Momentum rund um ein systemisches Problem ist möglich. Wir brauchen ein Fridays for Free Knowledge, eine globale Bewegung rund um Freies Wissen und Offenheit für Daten, Informationen und Netzwerke, und zwar konkret in unserem Alltag mit klaren Alternativen und Konsequenzen für unsere Plattformen, Prozesse, Organisationen und Wissenspraktiken. Das kann ganz lokal passieren, online oder physisch, in Bezug auf Daten, angewandtes Wissen oder Theorie – wir suchen die Plattformen, Formate und Zugänge, die all diese Initiativen vernetzen können und zusammenführen zu einer gemeinsamen Narrative.
Bestehende Ansätze
editNatürlich müssen wir hier nicht bei null anfangen. Die Veteranen der Bewegung für ein freies und offenes Internet – von der EFF über die P2PFoundation bis hin zu Wikimedia selbst – arbeiten seit vielen Jahren für diese Vision. Aber es gibt auch viele neue Akteure und Plattformen. Ethical.net sammelt alternative Services und Produkte, die versuchen Möglichkeiten jenseits des bestehenden Überwachungskapitalismus zu finden. Es gibt ganz konkrete “Offline”-Initiativen wie z.B. Schule im Aufbruch, die für eine offenere, inklusivere Bildungslandschaft in Deutschland kämpfen und dazu innovative und hoch erfolgreiche lokale Veranstaltungsformate entwickelt haben. Es gibt natürlich die Fridays for Future dieser Welt, die in dezentraler Organisation und aus verschiedensten Hintergründen ein gemeinsames Ziel formuliert und kommuniziert haben. Und es gibt die vielen verschiedenen Initiativen in Deutschland und weit darüber hinaus, die sich mit Open Science beschäftigen und gemeinsam Daten und Wissen teilen und vernetzen. Wir wollen mehr davon, wir wollen lauter sein und wir wollen eine gemeinsame Geschichte erzählen. Für eine Freie Wissensgesellschaft – im Internet und weit darüber hinaus!
Ausblick
editWir haben fünf Hebel identifiziert, von denen wir glauben, dass sie besonders großes Potenzial aufweisen, um eine digitale, faire und inklusive Wissensgesellschaft voranzubringen und die im Rahmen des Accelerators angegangen werden können. Sie lauten: 1. Der Ausbau von freier Wissensinfrastruktur, 2. Die Förderung von unterschiedlichen Wissenskomptenzen, 3. Die Öffnung von Wissenssilos, 4. Die Förderung von Fairen Rahmenbedingungen und 5. Die Zukunft der inklusiven Wissensgesellschaft.
Wir glauben, dass eine wünschenswerte Zukunft des Freien Wissens eine Kombination aus alten und neue Ideen benötigt, eine leidenschaftliche Umsetzung und den regelmäßigen Schulterblick, um festzustellen, ob man sich noch auf dem richtigen Weg befindet. Die hier vorgestellten fünf Handlungsfelder verstehen wir als Landkarte der Chancen und Herausforderungen. Sie sollen beim Navigieren auf weitem und noch unbekanntem Terrain unterstützen. Auch wir werden regelmäßig aktiv auftreten, um die Handlungsfelder entlang der Lernerfahrungen des Accelerators anzupassen, zu verwerfen oder zu schärfen. Wir wissen, dass wir nur zusammen Fortschritte erzielen können und freuen uns auf den gemeinsamen Weg mit euch!
Referenzen
edit[1] Ist das Internet eine globale Stadt – und Wikimedia ein Kiez? Mit solchen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich das Hybrid City Lab, ein interdisziplinäres Designstudio mit dem Ziel gesellschaftliche Innovationen sowie faire, lebenswerte und öffentliche Orte im digitalen Zeitalter mitzugestalten. Es verantwortet den Bereich Public Design bei der Innovationsberatung zero360.
[2] Diese Definition von Wissen knüpft an ein systemisches und konstruktivistisches Verständnis von Wissen an, wie es etwa in der sozialen Erkenntnistheorie verstanden wird. Siehe dazu z.B. Luhmann, Niklas. (2002). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Darmstadt:Wissenschaftliche Buchgesellschaft.; Stichweh, Rudolf. (2000). Die Weltgesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp.; von Foerster, Heinz. (1972). “Perception of the Future and the Future of Perception.” Instructional Science 1 (1): 31–43. https://doi.org/10.1007/BF00053969.
[3] Wir haben von 11 (von insgesamt 12) Interviewpartnerinnen und Interviewpartner ihr Einverstädnis erhalten, sie in diesem Report namentlich zu erwähnen und mit Bildnachweis zu zeigen.
[4] im Sinne David Bohms. Dazu – deutlich aktueller – auch: Pörksen, B., & Schulz, . T. F. (2020). Die Kunst des Miteinander-Redens: Über den Dialog in Gesellschaft und Politik.
Kontakt
editDie Forschung fand 2020 im Rahmen von UNLOCK Accelerator statt. Der Accelerator-Programm ist eine Fördermaßnahme der Strategie Innovationsmotor von Wikimedia Deutschland. Bei Fragen und Anregungen steht Kannika Thaimai (Leitung Innovationsmotor, WMDE) zur Verfügung.