DE policy/EU-Urheberrechtsreform Richtigstellungen BDZV
Nachdem in den letzten Tagen nicht nur Wikimedia Deutschland seine Mitglieder in zwei Rundmails zum Protest aufgerufen, sondern diverse europäische Wikipedia-Communitys ihre Portale teils mit entsprechenden Bannern versehen oder sogar aus Protest ganz offline genommen haben, greifen nun die Spitzenverbände der Zeitungsverleger uns und die Wikipedianer öffentlich mit dem Vorwurf der Irreführung an. Wir führen beide Mitteilungen hier auf und nehmen zu den darin gemachten Äußerungen Stellung.
Es handelt sich um eine Pressemitteilung des Bundes Deutscher Zeitungsverleger BDZV und des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger VDZ sowie um einen Rundbrief der europäischen Verleger-Dachverbände an sämtliche 750 Europapabgeordneten.
Beide Mitteilungen nehmen in erster Linie Bezug auf Artikel 11 der umstrittenen EU-Urheberrechtsreform, der ein neues Leistungsschutzrecht für Presseverleger einführen würde. Gemäß diesem Schutzrecht müsste für die Übernahme kleinster Textschnippsel aus Pressepublikationen eine kostenpflichtige Lizenz erworben werden. Nach derzeitiger Rechtslage fallen solche kleinsten Textteile nicht unter das Urheberrecht, sind also frei nutzbar.
Pressemitteilung des BDZV vom 4. Juli 2018
editDie geplante Modernisierung des europäischen Urheberrechts beeinträchtigt die vielfältigen und für eine offene Wissensvermittlung unverzichtbaren Aktivitäten von freien Enzyklopädien nicht. Mit dieser Klarstellung reagieren die Spitzenverbände der deutschen Verleger - BDZV und Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) - am 4. Juli 2018 auf Befürchtungen der Plattform Wikipedia.
Betroffen sind nach Sinn des im Europäischen Parlaments abzustimmenden Vorschlags nur Geschäftsmodelle, die auf dem Einstellen von urheberrechtlich geschützten Inhalten basieren und eine Gewinnerzielungsabsicht haben. Das alles trifft auf Wikipedia nicht zu.
Hyperlinks auch auf urheberrechtlich geschützte Inhalte sind nach wie vor möglich, die wichtige Arbeit von Wikipedia bleibt völlig unbeeinträchtigt.
BDZV und VDZ appellieren daher an die Mitglieder von Wikimedia Deutschland, sich nicht von falschen Behauptungen irreführen zu lassen.
Die beiden Verlegerverbände sind ein Teil von über 100 Organisationen und Verbänden der Kreativwirtschaft – Autoren, Journalisten, Filmschaffenden, Musikern, Schauspieler u.a. – die sich gegen die Ausbeutung geistigen Eigentums und die Umverteilung zu Lasten digitaler Monopol-Plattformen wehren.
Der BDZV liegt falsch, wenn er behauptet, die Arbeit der Wikipedianerinnen und Wikipedianer bleibe "völlig unbeeinträchtigt". Weder ist sicher, dass die Limitierung auf Plattformen mit Gewinnerzielungsabsicht sicher greift, noch ist die genannte Ausnahme für Hyperlinks bereits sicher verankert. Zudem wird die Arbeit an der Wikipedianerinnen und Wikipedianer auch durch Eingriffe außerhalb der unmittelbaren Grenzen der Wikimedia-Projekte tangiert, wenn diese Maßnahmen den freien Fluss von Informationen und die Aushandlungsprozesse von Meinungs- und Wissensbildung behindern. Sowohl das hier vom BDZV behandelte Presseverleger-Leistungsschutzrecht als auch andere Bestandteile der kritisierten Reform, allen voran die vorgeschlagene generelle Pflicht für Plattformen, Upload-Filterung zu betreiben, würden derlei indirekte Wirkungen auf Projekte des freien Wissens zeitigen.
Im Einzelnen ...
Erstens: Wikimedia Commons könnte gerichtlich als "kommerziell" im Sinne der neuen Regelungen angesehen werden
editTrotz einer vorgeschlagenen Ausnahmeregelung für "Online-Enzyklopädien" sowie einer weiteren Ausnahmeregelung für nicht-kommerzielle Plattformen, sind weder die Wikimedia-Projekte noch all die anderen Open-Content-Projekte sicher aus der Schusslinie genommen. Der Grund ist der unbestimmte Rechtsbegriff "nicht-kommerziell" zusammen mit dem Umstand, dass nach den etablierten Open-Content-Grundsätzen alle Inhalte von Open-Content-Projekten auch für kommerzielle Nachnutzung freigegeben sind. Würden die jetzt vorgeschlagenen Regeln Gesetz, würden je nach Implementierung in den nationalen Urheberrechtsgesetzen und anschließender Auslegung die Gefahr bestehen, dass etwa das Medienarchiv Wikimedia Commons von Gerichten als kommerziell im Sinne der neuen Regelungen angesehen wird. Wikimedia Commons ist zum einen das Medienarchiv der Wikipedia, liefert also sämtliche in die Wikipedia eingebauten Medieninhalte zu. Zum anderen ist es ein auch separat abrufbares Repositorium für frei lizenzierte Medieninhalte, von Bildern über Videos und Audioaufnahmen bis zu 3D-Modellen und Animationen.
Diese Medieninhalte sind teils auf professionellem Qualitätsniveau, nicht zuletzt weil regelmäßig große Wettbewerbe um die besten neuen Inhalte veranstaltet werden, etwa der Wettbewerb "Wiki Loves Earth". Wegen der kommerziellen Nachnutzbarkeit all dieser hochwertigen Inhalte besteht das Risiko, dass das Angebot von Wikimedia Commons von Gerichten als vollwertige Konkurrenz zu kommerziellen Angeboten angesehen und damit den neuen Plattformregeln unterworfen werden würde. Selbst wenn im Gesetzentwurf statt auf das schwammige "nicht-kommerziell" auf den Begriff "Gewinnerzielungsabsicht" abgestellt würde, wäre die Gefahr nicht geringer, weil etwa zahlreiche professionelle und semi-professionelle Fotografen Wikimedia Commons als virtuelles Schaufenster ihrer Arbeit einsetzen, wodurch der Plattform insoweit eine unterstützende Funktion der Gewinnerzielungsabsicht der betreffenden Personen zuwächst. Weder der BDZV noch sonst jemand kann sicher zusagen, dass es nicht so weit kommt. Der gegenwärtige Entwurfstext bleibt daher eine Gefahr und als unausgewogen wie unausgegoren abzulehnen.
Zweitens: Freies Wissen entsteht und lebt auch jenseits der Wikipedia
editDie Verlegerverbände versuchen hier, wie einige Politikerinnen und Politiker übrigens auch, das freie Internet künstlich in Segmente zu unterteilen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, so ließe sich wirklich gezielt gesetzlich regeln – was als Wunschvorstellung an sich auch nachvollziehbar ist. Nur hat es wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Wie der Name schon sagt, ist das Internet eine vernetzte Struktur, weshalb jeder regelnde Eingriff besonders deutliche Auswirkungen an den verschiedensten Stellen erzeugt. Das ist beim Freien Wissen (wir schreiben das bewusst groß) nicht anders. Seine Aushandlung, das Sammeln der Informationen und Belege sowie die Verbreitung des Wissens finden großenteils außerhalb der Wikipedia und der anderen Wikimedia-Projekte statt. Das heißt: Selbst dann, wenn die oben genannte Bereichsausnahme für die eigentlichen Wikimedia-Projekte funktionieren würde – was nicht sichergestellt ist – wäre das Ökosystem des Freien Wissens nach wie vor von der festgefahrenen EU-Urheberrechtsreform tangiert.
Dieser politisch oft übersehene vernetzte Charakter des Freien Wissens ist auch der Hintergrund, warum der vollständige Name unseres Vereins "Wikimedia Deutschland, Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens e. V." lautet. Es ist daher einigermaßen infam, von Irreführung zu sprechen, wenn wir unsere Mitglieder auf die Gefahren für das Freie Wissen im Netz hinweisen. Wir verbitten uns das.
Rundbrief der Verbände EMMA, ENPA, EPC und NME an alle Europaabgeordneten vom 4. Juli 2018
editIn light of the vote on the mandate on the copyright file taking place tomorrow morning on 5 June, the four European associations representing press publishers across Europe, EMMA (European Magazine Media Association), ENPA (European Newspaper Publishers’ Association), EPC (European Publishers Council) and NME (News Media Europe) would like to express their concerns regarding the insidious means used by platforms to prevent this reform which would push them to obtain licenses with rightsholders for the use of the protected works they display.
In particular, Wikipedia has been encouraging its users since yesterday to contact their MEPs to prevent to “disrupt the open internet” and even black outed access to its pages in some cases stating that “it may be impossible to share a newspaper article on social networks or find it on a search engine. Wikipedia itself would risk to close.” Furthermore, there is proof of the backhanded collaborative lobbying of the platforms, as Wikipedia UK shows a black banner on top of the its main page in which the reader is redirected towards Mozilla’s anti-copyright campaign page. The well-orchestrated campaign provides step by step instructions on how users can contact Members of the European Parliament to express their opposition with regards the copyright reform.
The fact is: the report that will soon be voted upon establishes a right to press publishers (article 11.1a) which specifically excludes uses by individuals and hyperlinks from the scope of the right. As for Wikipedia’s “risk to close”, the report (Art. 2.4.a) specifically states that online encyclopedia are not covered by the directive.
This is therefore another purely bad-faith attempt to discredit a proposed directive aiming at re-balancing a digital ecosystem dominated by platforms.
Das kann man so nicht stehen lassen. Weder ist der Gesetzentwurf in irgendeiner Weise wirklich ausbalanciert noch gibt es "die Wikipedia" oder eine von Internetkonzernen gesteuerte Verschwörung im Hintergrund. Vielmehr bekämpfen sich hier verschiedene Industrien, wobei die Interessen aller Netznutzenden unter die Räder zu geraten drohen.
Welche Art von "re-balancing" das digitale Ökosystem genau braucht und mit welchen Mitteln so ein Ausbalancieren zu erreichen wäre, ist heftig und nicht zuletzt aufgrund des Vorgehens von Verleger-Lobbys umstritten. Der vorliegende Gesetzentwurf ist alles andere als ausbalanciert, sondern nutzt einmal mehr das Urheberrecht als Hebel für Probleme, für die eigentlich Kartell-, Wettbewerbs- und Steuerrecht die richtigen Instrumente wären.
Dabei gab es sowohl in der Vorbereitungsphase dieser Reform als auch später in den Beratungen des Europaparlaments dazu durchaus brauchbare Ansätze. Diese wurden dann jedoch einkassiert, die entsprechenden Kompromissfassungen in den Papierkorb geworfen, alles vermutlich zumindest auch auf Geheiß der hier sich so beschwerenden Verlegerverbände.
Fakt ist: Die von den Verlegerverbänden genannte Ausnahme in Artikel 2 leistet nicht sicher das, was die Verleger behaupten, siehe dazu auch die Erläuterungen oben zur Pressemitteilung.
Es gibt zudem keine zentrale Orchestrierung dessen, was die vielen verschiedenen Wikipedien auf ihren Webseiten tun. Die italienische Wikipedia-Community hat das gesamte Projekt dort offline genommen, andere haben nur Banner geschaltet oder ihr Logo nach schwarz geändert. die deutschsprachige Community hatte bereits Anfang Mai Protestbanner zum Reformtext laufen. Damit erübrigt es sich auch, auf den Vorwurf einer böswilligen Verschwörung von Plattformunternehmen einzugehen.